A: Stell dir vor, du müßtest jemandem die Form von Wolken beschreiben. Was würdest du sagen?
B: So ähnlich wie Watte.
A: Nein, nein, ohne <wie> oder <so ähnlich>.
B: Kugelig.
A: Wolken sind keine Kugeln.
B: Das nicht, aber so ähn ... . Das kann man nicht beschreiben.
A: Wieso nicht?
B: Man müßte sich über das Aussehen einer Standardwolke einigen - die Elementarwolke sozusagen. Dann könnte man sagen: Eine Wolke ist eine Elementarwolke oder eine zusammenhängende Menge von Wolken.
A: Und was ist eine Elementarwolke?
B: Ein Wassermolekül?
A: Aber dann sage ich doch nichts über die Form der Wolke aus.
B: Hmm, stimmt, aber du machst auch keine Einschränkungen, außer vielleicht, daß eine Wolke nicht kleiner als eine Elementarwolke sein kann.
A: Aber Wolken haben doch immer eine bestimmte Form. Wenn wir eine Wolke sehen, wissen wir, daß es eine Wolke ist.
B: Ok, dann sagen wir, die Elementarwolke ist so ein eimergroßes, fluffiges, weißes Ding.
A: Na gut.
B: Fein. Dann können wir sagen, eine Wolke ist eine Menge von Elementarwolken beliebiger und möglicherweise unterschiedlicher Größe.
A: Das würde bedeuten, daß eine Wolke von einem Kubikkilometer genauso aussehen könnte wie die Elementarwolke - nur eben größer.
B: Genau.
A: Das Funktioniert für Wolken, aber nicht für Menschen oder Känguruhs.
B: Wie jetzt ... ?
A: Wenn Du einen Menschen vergrößerst, wird er irgendwann unter der eigenen Last zusammenbrechen, oder beim ersten Bremsversuch durch die Trägheit seiner Masse einfach umfallen.
B: Stimmt, da scheint ein wesentlicher Unterschied zu bestehen!?
A: Bei Bäumen funktioniert es. Bäume sind unterschiedlich groß, und bestehen aus großen Ästen, die aber genau so aussehen wie die kleineren Zweige aus denen sie bestehen u.s.w. .
B: Stimmt, bei Küstenlinien funktioniert es auch.
A: Küstenlienien!?
B: Wenn du dich an den Rand eines Sees stellst und auf die Uferlinie herabblickst, siehst Du einen gezackten und unregelmäßigen Verlauf - viele kleine Buchten und so. Aus der Satelliten - Perspektive ist das nicht anders.
A: Ach so, der Satellit sieht die kleinen Buchten gar nicht, nur die großen. Und die großen erscheinen aus
seiner Sicht wie kleine. Das ist also eine Frage des Maßstabes.
Aber, wenn der Satellit die kleinen Buchten nicht sieht, erscheint ihm die Küstenlie ja kürzer als mir, der ich direkt am See stehe!
B: Hä?
A: Ich kann mit einem kleinen Lineal viel genauer die gezackte Uferline ausmessen, als mit einer riesigen Meßlatte.
B: Verstehe, das würde aber heißen, daß jede Küstenlinie unendlich lang ist, da ich mir - zumindest theoretisch - ein beliebig kleines Lineal vorstellen kann.
A: Das würde wiederum heißen, daß sich innerhalb einer begrenzten Fläche - wenn wir z.B. England nehmen - eine unendlich lange Küstenlinie befindet.
Das klingt widersinnig.
B: Absolut widersinnig, denn obwohl die Küste nur eine Linie ist, scheint sie eine gewisse Fläche zu benötigen. Was ist sie denn nun, zum Henker, eine Linie oder eine Fläche?
A: Die Küstenlinie bewegt sich irgendwo dazwischen - zwischen Linie und Fläche. In gewisser Weise hat sie Gemeinsamkeiten mit einem Wollknäuel.
B: ...?
A: Von weitem sieht das Wollknäuel wie eine Kugel aus - also ein räumliches Gebilde. Von nahem gesehen besteht
es aus dicken Fasersträngen, die aber wiederum aus dünnsten Fasern bestehen, die idealisiert betrachtet Linien sind.
Also was, zum Henker, ist ein Wollknäuel, eine Linie oder ein räumliches Gebilde?
B: Verstehe. Und man kann die Sache noch weiter treiben. Die kleinen Fasern im Wollknäuel werden auch manchmal Lust haben, sich gegenseitig zu verheddern und zu verknäulen. Das große Wollknäuel besteht also aus lauter kleinen Wollknäulen, die wiederum aus Wollknäulen bestehen u.s.w. .
A: Womit wir wieder bei den Wolken angekommen währen. Wolken, Wollknäuel, Bäume und Küstenlinien haben tatsächlich eine Gemeinsamkeit. Sie enthalten sich selbst. Sie sind sich sozusagen selbst ähnlich.
B: Ja, und Selbstähnlichkeit scheint so etwas wie Symmetrie in verschiedenen Maßstäben zu sein.
A: Merkwürdig.
B: Höchst merkwürdig. Aber vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet strahlen selbstähnliche Erscheinungen eine gewisse Schönheit aus.
A: Das ist wahr, Wolken sehen toll aus - vor allem, wenn sie von der Abendsonne erleuchtet werden. Und von der
Schönheit von Bäumen möchte ich gar nicht erst reden.
Diese Selbstähnlichkeit scheint eine Art Komplexität zu erzeugen, die man instinktiv als schön empfindet.
B: Ich glaube, einen guten Vergleich erhält man, wenn man ein altes Schloß und ein Gebäude im Bauhaus - Stil betrachtet. Letzteres besteht aus einfachen, streng geometrischen Formen und wirkt auf die meißten Menschen etwas kalt und lieblos, während man sich bei der Betrachtung eines alten Schlosses stets neuen Details in immer kleineren Maßstäben gegenüber sieht - etwa einer Skulptur auf dem Dach oder der Struktur auf einem Blatt, das eine Säule verziert.
A: Man könnte annehmen, daß die Schönheit der Natur auf der Selbstähnlichkeit ihrer Erscheinungsformen beruht. Aber nehmen wir z.B. den Menschen: der ist natürlich und nicht selbstähnlich.
B: Der Mensch als Ganzes nicht, aber bestimmt viele Teile von ihm - z.B. das System seiner Blutbahnen. Genaugenommen sehen die wie Bäume oder Wurzeln aus.
A: Stimmt, und das gilt für viele Lebewesen - wenn nicht sogar für alle. Aber trotzdem: wenn man die komplexen, selbstähnlichen Bestandteile vereinigt und als Lebewesen betrachtet, ist es eigentlich seltsam, daß sich daraus eine nicht selbstänliche Struktur ergibt.
B: Ja, das ist merkwürdig.
A: Höchst merkwürdig.
...
Selbstähnliches - Die Klassiker